SCHACH Herr Turnierleiter, mein Gegner pfeift! von Jrgen Nickel (entnommen dem Schachkalender 1995) Es muá einen Laien ja nachhaltig beeindrucken, wenn er zum ersten Mal einen Turniersaal betritt, in dem auáer dem kaum ver- nehmlichen Ticken der Uhren fast keine Regung zu spren ist. Fast ger„uschlos arbeiten die Gehirne der Meister, deren Mimik so gut wie nichts ber ihre n„chsten Pl„ne preisgibt. Anzuneh- men, daá in fast jedem von ihnen ein wildes Tier schlummert, das am liebsten den Gegner ber f7 oder h8 in der Luft zerreiáen m”chte, aber zu erkennen geben sie es noch nicht. Besagter Laie tastet sich vorsichtig durch den Raum, zun„chst nur mit den Augen, dann erst behutsam Fuá vor Fuá setzend. Ehrfrchtiger hat er nie eine Kirche betreten, gebannter nie einem Konzert fr Harfe gelauscht. Nur den Geist h”rt er s„useln, wie er dicht ber den Brettern schwebt und die Meister mit seinen Ideen be- glckt. Unvorstellbar fr unseren Laien, daá in dieser Welt reinster Logik und empfindsamster Phantasie etwas knirschen, ge- schweige denn zerbr”seln k”nnte. Kippte auch nur ein Gl„schen vom Tische oder - was noch viel „rger w„re - ber die Partie: Unserem Laien máte minutenlang der Atem stocken! H„tte indessen jener Laie meinen langj„hrigen Schachfreund Hein- rich Jrgensen vom Flensburger SK jemals kennengelernt, er w„re eines Besseren belehrt worden! Nicht, daá mein Freund w„hrend der Partie nerv”s auf dem Stuhl hin- und hergerutscht w„re, b„uchlings auf einem Tische liegend die Figuren bewegt h„tte, mit zwei Fingern v”llig unrhythmisch auf den Tisch getrommelt h„tte, wom”glich - als dies noch denkbar war - dem Gegner den Rauch seiner filterlosen Zigarette unbekmmert ins Gesicht ge- blasen h„tte! Beileibe nein, denn alle diese verwerflichen Ange- wohnheiten wohnten ihm nicht inne. Jrgensen verfgte vielmehr ber eine in der Welt des Schachs wohl seltene Gabe - oder ver- fgte sie ber ihn? - Er begleitete seine Gedanken mehr oder minder unbewuát mit einem zun„chst kaum h”rbaren, dann sich langsam zu einer Melodie formenden Pfeifton, der auch dem musik- fremdesten Gegner schnell zu erkennen gab, daá ihm jemand gegen- bersaá, der sich im Reich der T”ne mehr als zu Hause fhlte. Nun werden Sie sagen, das ist ja nichts Besonderes, in unserem Verein haben wir fnf oder sieben solcher Schachfreunde, die pfeifen! Gesch„tzter Leser, meinen Sie ernstlich, ich h„tte Ihnen dann diese Geschichte aufgetischt? Warten Sie nur ab, es kommt noch besser, und dann k”nnen Sie nicht mehr mithalten! Denn Heinrich Jrgensen besaá die seltene F„higkeit, seine Musik der augenblicklichen Situation auf dem Brett aufs feinste anzu- passen. Da Jrgensens Repertoire schier unersch”pflich schien - manch ein Rundfunkprogramm k”nnte siebenundzwanzig Wunschkon- zerte damit fllen - fiel es ihm in keiner Weise schwer, seine momentane Gemtsverfassung, die bald defensive, bald aggres- sivere Aufstellung der Figuren und zugleich auch seine Einsch„t- zung des Gegners - B”sewicht, Weichling oder T”lpelhans - mit den gew„hlten Melodien in fast v”llige šbereinstimmung zu brin- gen. Eigentlich, und diesen Zweifel merkten wir schon an, war es viel weniger er selbst, der jene Harmonie vollbrachte, son- dern die Muse selbst, die seine Lippen formte und bald einen Querschnitt vernehmen lieá durch die M„rsche der Jahrhundertwen- de, um sodann bei ver„nderter Stellung auf dem Brett in Drei- vierteltaktmelodien zu mnden, wie sie bekannt sind aus dem Film "Der Kongreá tanzt". Tanzten seine Pppchen auf dem Brett, so schlug nicht nur sein Herz h”her, sondern Jrgensen vollbrachte zwischen seinen Lippen die erstaunlichsten Tremoli. Hin- und hergeworfen in seinen Stimmungen, und das haben Sie, verehrter Schachfreund, oft genug selbst am Brett erfahren, kmmerte sich die Muse in ihm nicht mehr um jene an der Oberfl„che schwimmende Logik, mit der wir uns zuweilen vergeblich um eine brauchbare Partie abmhen: Die verzweifelte Muse warf alles in einen Topf, lieá bald Schluáakkorde aus Preuáens Gloria vernehmen, um - zu- mal in fortgeschrittener Stunde - den Mittelteil aus "Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein" zu intonieren, woraufhin sie unver- mittelt fortsetzte mit Mozarts "Komm, lieber Mai, und mache!" und ohne Kehrtwendung das weihnachtliche "Sáer die Glocken nie klingen" anstimmte. Genauer konnte das Chaos auf dem Brett gar nicht wiedergegeben werden. Hand aufs Herz, lieber Leser, h„tten Sie selbst, bald denkend, bald lauschend, bald hier und da einen Zug zweifelhafter Gte ausfhrend, jenes Gratis-Konzert l„nger ertragen? - Nun muá ich allerdings zur Ehrenrettung meines Freunds einfgen: Jrgensen pfiff nicht ununterbrochen, vielmehr phasenweise und in der Lautst„rke immer „uáerst rcksichtsvoll, zwei Tische entfernt kaum noch vernehmbar. Immerhin, das stellen Sie sich vor, er- dreiste sich ein wenig gebildeter Schachfreund, wenn man ihn denn so nennen kann, mir mit vorwurfsvollem Blick entgegenzuwer- fen: "Herr Turnierleiter, mein Gegner pfeift!" Alldieweil es sich um eine sogenannte "freie Partie" handelte und auáer un- seren liebenswerten Rentnern kaum noch jemand das Hinterzimmer der Gastst„tte bev”lkerte, wies ich ihn beruhigend zurck: "Lassen Sie ihn, er pfeift nicht, es pfeift in ihm, und wenn es in ihm nicht pfeift, kann er nicht denken!" Meine Žuáerung war in den FIDE-Regeln nicht vorgesehen, immerhin nahm der verwirr- te Gegner wieder am Brett Platz. Jrgensen, der in jngeren Jahren unserer 1. Mannschaft ange- h”rt hatte, wobei er stets sehr diszipliniert und unauff„llig spielte, dabei immer ein ernstzunehmender Gegner war, hat wohl, wenn die Muse einsetzte, so manchen Sch„cher in seinem Gedanken- fluá gehemmt, gegen mich - eigentlich bin ich nicht der geborene Angeber - aber keine Partie gewonnen, was keine Frage der Spiel- st„rke war, sondern seinen Grund in einer anderen Ursache fand: Ich mochte seine Musik, seine Musik beflgelte mich und gab mir jene Ideen ein, die mir ohne sein reiches Repertoire nicht zuge- flogen w„ren. Im fortgeschrittenen Alter nahm Heinrich Jrgensen nur noch sporadisch an kleineren Turnieren teil. Sein letzter Auftritt, eigentlich kein Auftritt, sondern sein Abschied vom Verein und vom Schach berhaupt, wird mir immer im Ged„chtnis bleiben: Auf einem Stock gesttzt, kam er zu uns herein in das Spiellokal, suchte nach der Garderobe und kannte kaum noch einen der jngeren Schachspieler, die inzwischen dem Verein beigetre- ten waren. Ein wenig hilflos sah er sich um. Ich brachte ihn zu einem Tisch, setzte mich gegenber. Mit zittrigen H„nden stellte er die Figuren auf, zum Schluá die "Buben", wie er die Bauern liebevoll nannte. Fast unbemerkt spielten wir unsere Partie, wo- bei er die alte Steinitz-Variante im Spanier w„hlte, die wir schon so oft auf dem Brett gehabt hatten. Nur gelegentlich blitzte aus seinen Augen noch jenes verschmitzte L„cheln auf, das einen vermutlich starken Zug begleitete. Eine Viertelstunde ging vorbei, eine halbe Stunde und wohl mehr. Nichts war mehr wie frher. Ein Hauch von Stille lag ber dem Brett. Nicht das S„useln einer Melodie war vernehmbar, kein Ton kam ber seine Lippen, die Muse in ihm war verstummt fr immer. An jenem Abend wurde uns beiden nicht warm. Wenig sp„ter half ich Jrgensen in den Mantel und fuhr ihn nach Hause. Kurz vor seinem 90. Geburtstag, den er nicht mehr erlebte, traf ich ihn mit Tochter und Schwiegersohn. Sie hatten "Vati", den sie sttzten, in ihre Mitte genommen. "Vati lebt jetzt im Pflegeheim zum Heiligen Geist", erfuhr ich von seiner Tochter. "In den Klub kann er leider nicht mehr kommen." "Wissen Sie noch", fragte ich ihn, "wie wir oft miteinander gespielt haben? Sie haben immer so sch”ne Melodien gepfiffen." Er schaute zu mir auf aus gebckter Haltung und verlieh seinem Erstaunen Ausdruck: "Ja, wir haben oft gespielt, ich erinnere mich! Aber habe ich gepfiffen? Wirklich?" So sahen wir uns das letzte Mal, und ich muáte unwillkrlich an einen Filmtitel der 30er Jahre denken: "Das Lied ist aus."