Der Urtrieb

Da rennt ein Mensch.

Da rennt ein Mensch mit all seiner Kraft nach vorne. Kein besonders sehenswerter Spurt. Hängende Schultern, schlackernde Arme, ein tief vorgeneigter Kopf lassen fehlende Übung erkennen. Doch dieser Mensch betreibt keinen Sport, er malt ein Bild seines Lebens.

Die parallelen Stahlbänder fliegen von vorn nach hinten weg, die regelmäßig im rechten Winkel dazu liegenden groben Hölzer spüren nur kurz die kräftigen Abdrücke des Rennenden. Seine Kleidung ist so gewöhnlich wie sein Gesicht einst war. Jetzt formt sein Inneres das beliebige Äußere. Sein Wesen wird zum Bildhauer des Unscheinbaren. Ein halboffener Mund, die Augen - groß und wahnsinnig - nach vorne gerichtet.

Dieser Mensch will endlich das konkret spüren, was er sein Leben lang nur erahnt hat. Allen Zwängen und Beschränkungen, den Konsequenzen seiner Entscheidungen mit allem was er ist, Seele und Körper, zu begegnen.

Einmal das Gefühl erfahren, vollständige Erkenntnis über das wahre Wesen der Dinge zu besitzen.

Er schwitzt nicht, sein Lauf war nur kurz.

Der Zugführer erzählte später dem psychologischen Betreuer er habe den Eindruck gehabt, sein Schnellzug hätte diesen frontal auflaufenden Selbstmörder geradezu sanft aufgenommen und dann als sprühenden Hagelschauer in alle Winde verstreut.


©Thomas Hulvershorn
Köln 1996