Schreiben über Schreiben
Michael Löffler
Die Landschaft zieht vorbei, die Gebäude fliegen förmlich an meinem Fenster vorüber. Ich sitze hier im Zug und versuche meine Gedanken aufzuschreiben. Am Fensterplatz auf der anderen Seite des Waggons sitzt auch einer und schreibt. Was er wohl schreibt? Es ist viel schöner, als die Wetterprognose es vorhergesagt hat. Das leichte ruhige Schaukeln des Waggons und die liebliche Landschaft im Sonnenschein, all das macht die sonntägliche Dienstreise doch etwas angenehmer. Ob er auch dienstlich unterwegs ist und vielleicht gerade einen Bericht für morgen Montag erstellt? Einen Bericht über wichtige Verhandlungen mit Geschäftspartnern, mit brisanten Informationen und dunklen Geheimabmachungen? Nein, so sieht er nicht aus, eher wie ein Professor. Stellt er vielleicht eine Klassenarbeit für die Schüler zusammen? Nein, er tippt sehr gewandt in sein Notebook, richtig professionell wie ein echter Schreiberling, vielleicht ein Journalist? Gabs irgendeine wichtige Veranstaltung dieses Wochenende? Es ist mir nichts bekannt - aber gut, wenn ich davon wüßte, müßte es schon etwas ganz Bekanntes sein - das sagt also nichts aus. War er auf einer Messe und schreibt über die neuesten Entwicklungen auf dem Was-weiß-ich-Sektor? Es muß jedenfalls etwas Geistiges, Gehobenes, etwas Seriöses, vielleicht Kulturelles sein. Der dunkle Anzug, die eher konservativer Krawatte, die gepflegten braunen Lederschuhe ergeben einen durch und durch seriösen Gesamteindruck.
Der Schaffner kommt. Vielleicht ergibt sich dabei ein Informationsgewinn. Darf ich kurz bei der Arbeit stören?". Aha, der sieht also auch, daß er arbeitet, aber woran bleibt weiter im Dunkeln. Jetzt macht er es sich bequem. Der Notebook kommt beiseite und die Füße werden auf einen Teil der Presse am gegen-überliegenden Sitz plaziert. Sehr korrekt, paßt genau zu ihm. Ich wende meinen verstohlenen seitlichen Blick wieder von ihm ab und erfreue mich der hügeligen, waldigen Landschaft, die in das sanfte goldgelbe Licht des Sonnen-unterganges getaucht ist. In der Ferne ziehen dunkle, graublaue, fast bedrohlich wirkende Regen-wolken vorüber. Eine interessante Stimmung aus Licht und Landschaftsformen, die beruhigend und anregend zugleich wirkt. In der Spiegelung der Scheibe sehe ich ihn wieder. Jetzt hat er sich ein Buch zur Hand genommen. Mal sehen, vielleicht lassen sich daraus Schlüsse über sein Schreiben ziehen - also ein leichter dezenter Schwenk in seine Richtung. Ich wünsche, ich säße ihm gegenüber, aber es wäre wahrscheinlich eher peinlich, wenn ich ihn dauernd anstarren würde. Mist, nur ein schlichtes Buch mit blauem Leineneinband und einer - für die Entfernung zwischen unseren Sitzen - viel zu kleinen Schrift, sodaß ich nichts Brauchbares erkennen kann.
Jetzt kramt er in seiner Sakkotasche und fischt einen winzigen, gänzlich abgenutzten Bleistiftstummel heraus, der vollständig in seiner Hand verschwindet. Er unterstreicht etwas im Buch. Ich habs ja gewußt, ein Intellektueller
mit geistigem Beruf, vielleicht ein Theaterkritiker. Jedenfalls einer, der ständig schreibt, ob mit Notebook oder mit einem schäbigen Stummel. Aber verdammt, was schreibt er? Der Schaffner kommt mit Zeitungen zurück. Kein Bedarf. Ja, ein gutes Buch ist sicher vorzuziehen, nicht wahr?" Na ja, das ist eher Pflichtlektüre." Was vernehm ich da? Pflichtlektüre?! Vielleicht gar ein Literaturkritiker, der von einer Buchpräsentation kommt und das Werk gerade in Grund und Boden vernichtet? Nein, das Buch sieht eher antik aus, sicher keine Neuerscheinung, eher ein Klassiker oder ein wissenschaftliches Nachschlagewerk. Jetzt zieht er einen Zettel hervor und macht darauf mit seinem Ministift kurze Notizen - stark strukturiert, wie ein Konzept oder eine Gliederung. Geheimnisvoll auch die Seitenmarkierungen an der oberen Ecke. Für reine Seitenzahlen zu aufwendig, vielleicht ein Kurzzeichen. Verdammt, was schreibt er nur? Ich reiße meinen Blick wieder los und notiere die Eindrücke.
Ha, was ist, wenn er über mich schreibt? Ja freilich und gleich kommt der Schaffner und bittet mich um ein Autogramm. Manchmal treibt es die gesunde Selbsteinschätzung schon ganz schön weit. Jetzt hat er wieder den Notebook gestartet. Ein Apple Powerbook. Typisch - die Schreiber, Reporter und Journalisten arbeiten ja alle mit Apple; paßt also ins Konzept. Kann ja auch sein, daß er gerade am Bestseller des Jahres arbeitet, dem großen Roman und Standardwerk zeitgenössischen Schaffens. Und ich schau ihm zu und schreib darüber. Läßt sich daraus Kapital schlagen? Wohl eher schlecht. Verdammt, wenn ich nur wüßte, was er schreibt. Jetzt schaut er zu mir rüber, unsere Blicke treffen sich für einen Augenblick, genau so lange bis ich rasch meinen Blick abwende und wieder aus dem Fenster starre. Die letzten Sonnenstrahlen streifen die hohen Baumwipfel, es ist angenehm, daß es wieder länger hell bleibt.
Es macht aktiver und unternehmungslustiger. Apropos aktiver, wie wäre es denn, wenn ich ihn einfach fragen würde, worüber er schreibt? Ganz dezent wie: Hallo, wie gehts, was schreiben Sie eigentlich?". Na gut, das hat nichts mit Aktivität sondern eher mit peinlicher Neugier zu tun und außerdem, was sag ich ihm, wenn er mich fragt, worüber ich schreibe? Vielleicht etwa: Danke der Nachfrage, ich schreibe über Sie und Ihr Schreiben". Nein, es muß einen unauffälligeren und subtileren Weg geben, um herauszufinden, worüber er schreibt. Er streckt sich und stellt sein Notebook - nur halb zugeklappt - auf den Sitzplatz neben sich. Er kramt wieder in seinem Sakko und seiner kleinen Tasche neben sich. Jetzt steht er auf! Was hat er vor? Geht er etwa in den Speisewagen? Nein; er läßt seinen Platz einfach so zurück, er kann nicht lange weg sein. Wahrscheinlich nur der Natur seinen Lauf lassen. Er ist nach hinten durch den Großraumwagen entschwunden.
Verstohlen drehe ich mich um. Nur drei Personen sitzen einige Reihen hinter mir im gleichen Waggon. Zwei sprechen sehr intensiv miteinander, der dritte scheint zu schlafen. Das ist meine Chance, aber kann ich es wirklich riskieren? Was, wenn er jetzt gleich wieder zurück kommt, oder der Schaffner? Was, wenn der eine Mann nicht schläft oder gerade aufwacht? Ach was, ich hab nicht viel Zeit zum Überlegen, sonst kommt er ganz bestimmt vorher zurück; außerdem ist meine Fahrt bald zu Ende, so ein Chance kommt nicht wieder. Also gut, mein Herz hämmert, meine Hände sind feucht, aber ich muß es jetzt einfach wissen. Ich stehe rasch auf, gehe die zwei Schritte zu seinem Sitzplatz, greife mir den Notebook und klappe ihn auf. Verdammt, wo ist bei dem Ding bloß der Schalter? Wird sicher nur im Stand-by-Modus sein. Ach ich Idiot, das ist der Lautstärkeregler. Aber dieser ist es endlich! Noch schnell ein flüchtiger Blick, ob auch wirklich keiner kommt oder etwas sieht, dann läßt der LCD-Schirm erste Schemen erkennen. Mein Herz rast förmlich. Word , sehr gut, damit kann ich wenigstens umgehen. Also rasch an den Anfang des Dokumentes - so geschafft! Ich schaue genau hin und lese die ersten Sätze:
Die Landschaft zieht vorbei, die Gebäude fliegen förmlich an meinem Fenster vorüber. Ich sitze hier im Zug und versuche meine Gedanken aufzuschreiben. Am Fensterplatz auf der anderen Seite des Waggons sitzt auch einer und schreibt. Was er wohl schreibt? Es ist viel schöner ..."
ml@magnet.at